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SEI ONLINE, SEI MEIN

Hightech und Hohe Minne: Die Geschichte von POE und ROSA.

Online zu sein ist eine Lebensart. Man läßt bei der Morgentoilette die Bade- zimmertür offen und den Modemlautsprecher aufgedreht, um sofort zu hören, wenn ein angewählter Rechner einen Trägerton schickt. Plötzlich hat man Be- kannte, die FRIMP, PAPPNASE, W.C.S. oder JUDAS heißen. Ich nenne mich POETRONIC, kurz POE, nach dem Dateinamen eines kleinen Basic-Programms, das ich mal vor Jahren geschrieben habe und das automatisch schlechte Gedich- te erzeugt. ROSA hat sich nach ihrer Katze benannt (und die Katze nach Rosa Luxemburg); aber ich greife vor.

Ein echter Onlinejunkie frühstückt am Rechner und liest statt der Morgenzeitung seine eMail, die News oder hängt sich in einen der zahllosen Plauderkanäle des IRC (Internet Relay Chat). Er kann sich sorglos Kaffee in die Tastatur kippen, da ihr Inneres längst mit einer saugfähigen Mischung aus Brötchenkrümeln, Zigarettenasche und Katzenhaaren ausgepolstert ist.

Heutzutage ist jeder online. Sogar Biedenkopf haben sie schon vor ein Terminal gesetzt. Damals, als ich ROSA kennenlernte, waren öffentlich zugäng- liche Online-Dialogsysteme noch rar wie Radioteleskope. Es gab ein System in München (Altos) und eins in Aachen (RMI), beide schwer zu erreichen. Und es gab den Relay Chat auf den Rechnern von CERN. Physiker benutzen die riesige Anlage bei Genf als Teilchenbeschleuniger. Deutsche Hacker benutzten sie als Zeilchenbeschleuniger. Um hallo zu sagen, mußte man eingeben: "TELL RELAY AT DEARN: hallo." Gelegentlich saßen wir zu viert vor meinem C64 und flirte- ten unter einem hüstel geborgten Namen mit wissenschaftlichen Assistentin- nen, die sich an irgendwelchen Versuchsanordnungen mopsten.

Jeder hat Herzklopfen, wenn er das erste Mal online ist. Es ist ein seltsames, aufregendes Gefühl von Nähe. Während sich das erste Mal fremde Menschen auf ihrem Bildschirm zu Wort meldeten, sagt ROSA, sei ihr gewesen, als hätten sie leibhaftig im Zimmer gesessen, so präsent. Man fühlt, daß es eine der seltenen Gelegenheiten ist, zu denen man etwas wirklich Neues erlebt. Alles sieht aus wie sonst. Ab und zu streicht von alleine eine Zeile über den Bildschirm, und könnte ebensogut der Output eines Programms sein. Etwas ist da, aber es ist nicht zu sehen, nur zu erfahren. Es ist die ungreifbare Nähe der neuesten Welt.

Es gibt Momente, in denen ich die Zartheit empfinde, mit der die Katho- denstrahlung das Glas von innen berührt und den Computerbildschirm zum Leuchten bringt. Ein Haus, an Rosen gelehnt, hieß es bei Gottfried Benn. Heute gibt es keine Gedichte mehr, dafür Prosa, an die Bildröhre gelehnt, an das gläserne Blatt. Wie spaltbares Material liegen die Worte hinter einer Sicher- heitsscheibe.

Nach der Liebe ist das Licht die wunderbarste Zärtlichkeit der Welt. Licht berührt alles. Licht und Geist sind einander nah. Für mich war es eine Wohltat, von der Schreibmaschine auf den Rechner zu wechseln. Der Schrift- steller, seit jeher hart am Rand des Stofflichen tätig, rückt mit dem Schreiben am Computer seiner Bestimmung ein gutes Stück näher. Jetzt ist das Licht meine Tinte.

Technikfreaks und vor Wissenschaftlichkeit witzlos gewordene Studentinnen finden solche Ansichten romantisierend und fuzzy. Sie wissen nichts von der tiefen Macht der Sprache. Sie glauben, Poesie habe etwas mit Feuerschluckern in der Fußgängerzone zu tun. Aus dem selben Grund werden sie in der Onlinewelt, einer Region, die - noch - aus Sprache, Sprache, Spra- che besteht, keine wunderbare Liebe finden. Die Liebe nämlich ist das Aller- feinste. Und feiner als mit Worten läßt sich nicht locken. ROSA ist meine Zeugin.

Es ist nicht das Licht allein, aus dem die Worte am Bildschirm leuchten. Erst durch die Nacht wird das Leuchten passend eingefaßt. Tags ist der Himmel bestenfalls blau und hoch, in einer klaren Nacht aber sieht man hinaus in die Unendlichkeit. Wie schwarzer Schnee fällt die Dunkelheit, kühl, herzlos und sanft, und der Raum verliert sich in Zimmern und unter den Lampen in Zelten aus Licht. Die Nacht ist unergründlich, die Liebe auch, das fügt sich. Dazwischen leuchten Bildschirme. Nachts kehre ich die Bildschirmfarben oft um, weiße Zeichen auf schwarzem Hintergrund. So reicht die Nacht randlos vom All bis an meine Worte, und die leuchtenden Worte stehen gleichauf neben dem Licht der Sterne. Wer sich über all das Klarheit verschafft, kann sein Glück auch in einem Computer finden.

Das System, in dem ich ROSA kennengelernt habe, heißt Tornado (heute TECS - Tornado Electronic Communications System). Vor zehn Jahren, im Dezember 1984, ging die Tornado als eine der ersten deutschen Mailboxen online. Die Software war von Sysop Thomas Schewe in Basic handgesägt und lief auf einem Sirius-1 mit 10 Megabyte Festplattenkapazität. Schewe hatte von seinem Vater einen Wollgroßhandel übernommen und konnte sich einen derartigen Riesenrechner leisten. Der Name der Mailbox stammt übrigens von einer Hose, welche die Firma in den Siebziger Jahren produziert hat: Tornado- Jeans. Im Herbst 1987 wechselte Schewe auf einen besseren Rechner, schloß acht Telefonports an und schrieb ein Konferenzprogramm, das Forum.

Das Forum verwandelte die Tornado in eine Art Alices Restaurant der späten Achtziger Jahre. Alles kostenlos und 24 Stunden geöffnet. Ein Teil der Hamburger Hacker-Hautevolee, Subkultur, Studenten, ganz gewöhnliche Leute und jede Menge Bitkids wählten sich im wahrsten Sinn des Wortes die Finger wund. Man muß sich das so vorstellen: Es gibt ein phantastisches Lokal in der Stadt, in das aber nur maximal acht Gäste reinpassen. Außerdem wird man nach 40 Minuten wieder abserviert und muß sich erneut mit den anderen am Eingang drängeln. Der automatische Rauswurf ("Timeout") sollte auch an- deren eine Chance geben, in die Box zu kommen.

An einem Tag im April 1989 erschien ROSA das erste Mal im Forum. Sie gebärdete sich kolossal kratzbürstig und weckte meinen Ehrgeiz, eine olym- pische Charmoffensive zu versuchen, sowie meinen Missionierungsdrang, ihr die verborgenen Reize des virtuellen Ortes zu eröffnen ("du bist willkommen, da hilft kein toben & kein schrein"). Mit Adleraugen versuchte ich in den nächsten Tagen an der Art, in der sie ihre Zeilen abfaßte, ihre Wesenszüge auszumachen.

Die neue Art, online miteinander verständig zu sein, ist immer noch so neu, daß es kein deutsches Wort dafür gibt. Telekonferieren ist vollkommen unpassend. Manche verwenden die englische Bezeichnung chatten, plaudern. Am verbreitetsten ist "online sein"; das, worum es geht, ist tatsächlich weniger eine Tätigkeit als vielmehr eine Verfassung. Am prägnantesten ist das englische Kürzel TBT - Talking By Typing. Sprechen und Schreiben in einem.

Es gehört zu den besonderen Aufregungen des TBT, sein Fingerspitzengefühl so seismographisch wie möglich zu entfalten. Stumme Zeilen sprechen vom Bildschirm, ohne Mimik, Gestik und Untertöne. Geradezu klassischer Ansatz für eine vorurteilsfreie Begegnung. Daß nur der karge Standard-Bildschirmzeichensatz zur Verfügung steht, befördert übrigens die sprachliche Spielfreude und das Improvisationsvermögen ungemein. Wortstenogramme wie -= ("bis gleich"), ge* ("gestern") oder n8 ("'nacht") lassen den Dialogfluß glitzern. Wir vergnügten uns wie lang nicht mehr. Wir spielten das Kinderspiel, bei dem man so tut, als würde man Kaffee eingießen, als würde man Milch dazugeben und als würde man den Kaffee trinken.

Wer noch nie online war, sollte nicht zu viel erwarten. Die meisten Gespräche verlaufen online ebenso uninspiriert wie in der Kneipe. Wie in Welt I kommt es auch online auf die Leute an, und auf die Gunst der Stunde. Für die meisten ist der Computer schlicht Arbeits- oder Spielgerät und Datenfern- übertragung ein netter Spaß. Es ist eine Frage der Einstellung. Für mich ist der Computer ein Meditationsobjekt. Andere sitzen den ganzen Tag vor einer weißen Wand, ich sitze den ganzen Tag vor meinem Mac. Durch das, was die Maschine nicht kann, zeigt sie uns, was wir alles können.

Zugleich schönste Kunst und wundervollstes Vergnügen im Forum ist das gemeinschaftliche Surfen auf der Zeilenwelle. Blitzschach mit Worten. Baden mit ROSA, im Silbensee. Das größte Vergnügen bereitet sich der Verstand, wenn er ebenso schnell sein darf wie das Gefühl. Natürlich braucht es dazu die richtigen Leute. An Idioten ist auch im Cyberspace kein Mangel. ROSA wurde Mitglied der Midnight Crew. Die Mitglieder dieser Runde verbindet ein subtiler Sinn für Unsinn ("gewehr hat marmeladehemmung"), zorrohaft zustechende Zitierfreude ("soso, sie heissen james bond und haben meine formen bewundert") und eine strapazierfähige Auffassung von Ironie ("neues aus der gähntechnologie: die eierkraulende wollustsau").

Während Neulinge gewöhnlich einem Humorhärtetest ("User versenken") unterzogen wurden, sorgte ich dafür, daß man ROSA mit Artigkeit begegnete. Junge Männer, die zwei Stunden einem freien Port hinterhergewählt hatten, stürzten sich ritterlich zurück hinaus in die kalte Welt der Besetzzeichen, wenn es hieß: "ROSA will rein."

Der Wonnemonat Mai. Bis fünf Uhr früh streifte nun der Cursor jede Nacht wie eine kleine Textspachtel die Worte über den Schirm. Jeden Tag um Neun mußte ROSA, nach drei Stunden Schlaf, zur Arbeit, was unsere ungeteilte Bewunderung erregte.

Wir verliebten uns ineinander. Die Liebe ist wunderbar, wenn die Nacht wie eine Katze am Rand der hellen Lust sitzt. Ich hatte mich noch nie in eine Frau verliebt, die ich noch nie gesehen habe. Das Sonderbarste war meine Angst, es nicht ernst zu meinen, sondern irgendwo außerhalb der bewußten Kontrolle ein abgehobenes Spiel zu spielen. Die Kunst des Zitats, der Mehrdeutigkeiten, vielschichtigen Anspielungen und Feinheiten wurde von niemandem so obsessiv betrieben wie von den Mitgliedern der Midnight Crew. Was, wenn ich nun meinem eigenen Hang zur Subtilität aufgesessen war und mich nur selbst bespiegelte?

Nichts war sicher, vielleicht war das ganze Universum nur ein grausamer Scherz, eingerichtet einzig um Uwe Barschel eins auszuwischen, und seit er tot war, trudelte das Universum ebenso tot und sinnlos seinem Ende entgegen - aber wenn ich ein einziges, eigenes Stück Gewißheit hatte, dann das, daß ich verliebt war.

Wir telefonierten miteinander. Ich meine: ohne Modems und Rechner dazwischen. Per voice. Ein Mal hatte ich mich ehrlich an einen Rat gehalten, den alle Weisheitslehren der Menschheit geben: Du sollst Dir kein Bildnis machen, daher war ich weder überrascht noch enttäuscht. Wir waren beide nervös, aber die Nervosität ruhte auf einem soliden Fundament. Ich fühlte, daß längst alles klar war. Wir waren ein bißchen hilflos beim Reden, wie zwei, die schlecht englisch sprechen, es aber aus Rücksicht auf ausländische Gäste trotzdem tun. Die Art verbaler Wendigkeiten, die TBT erlaubt, funktionieren in gesprochener Form nicht; das ist ja grade der Witz daran.

Als ROSA und ich einander nach drei Monaten das erste Mal leibhaftig begegneten, war es ein wundervoller Triumph über ein Jahrhundert der Bil- der. Wir küßten und umarmten uns schwerelos von dem schönsten Gefühl.

Am Tag darauf schrieb ich meiner damaligen Freundin, daß ich sie verlasse. Daß auch ROSA im Begriff war, von ihrem Freund wegzugehen, mit dem sie die letzten sechs Jahre zusammengelebt hatte, war mir schon ersichtlich geworden, wenn sie im Forum geschrieben hatte "ach, jetzt wird grade der türstock rausgetreten"und Sekunden später die Verbindung unterbrochen war. Ich vergegenwärtigte mir, daß dort am anderen Ende etwas Gespenstisches geschehen war. ROSAs Freund hatte sich einen Computer und ein Modem zugelegt, wogegen sie sich erst heftig gesträubt hatte ("kommunikationsfeindlich"). Drei Monate später stand sie vor dem Rechner auf und sagte: Ich verlasse Dich. Wie sonderbar, wenn einem jemand vor den eigenen Augen verlorengeht.

Ich habe die Frau fürs Leben in einer Mailbox gefunden. Eine moderne Liebesgeschichte, meinetwegen. Was ich bemerkenswert finde: daß all das rein durch Worte geschehen ist. Ich war beschämt, als ich erkannte, daß ich an der Sprache gezweifelt hatte. Der Computer hat mich davon abgehalten, ein Leben in Lüge zu führen. Ein paar Worte, reichen für ein Wunder. Heute gibt es keine Gedichte mehr, dafür POE und ROSA.

(c) Peter Glaser

 

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